froster
Donnerstag, 13. Juli 2017

Darf ich vorne sitzen?

Ich wundere mich kurz darüber, das ich es schön finde, dass sich Johann und Kathi um den vorderen Sitz streiten. Wobei Streiten stark übertrieben ist. Johann fragt, wer vorne sitzt, wartet die Antwort aber nicht ab und hat sich so den Platz einfach einverleibt. Kathi verteilt ihre Sachen auf der gesamten Rückbank und Johann rutscht auf seinem Sitz hin und her als wollte er ihn ergonomisch genau an seine Körpermaße anpassen, was zwar witzig aussieht, aber wohl frustrierend sein muss, dem 20 Jahre alten Beifahrersitz irgend eine Form der Elastizität entlocken zu wollen. Ich denke kurz daran wer hier schon alles gesessen ist und beende den Gedankengang sofort wieder als ich an die Vorbesitzerin denken muss. Kathi hat hinten die Türe noch offen und ich bin auch noch nicht zufrieden mit meiner Sitzposition, starte aber trotzdem schon den Motor, weil ich ein bisschen aufgeregt bin. Ich entschließe für mich selbst, dass das keine Aufregung ist, sondern ein gewollt aufgedrehtes Verhalten um die Stimmung aufzulockern. Als ich das letzte Mal aufgeregt wegen meiner Mitfahrer war, hab ich so fest an dem Einstellungsrad der Klimaanlage gedreht, dass man sie jetzt nur noch komplett ausschalten, oder auf volle Leistung schalten kann was dazu führt, dass man eine geballte Ladung schlecht riechender Luft ins Gesicht geblasen bekommt, garniert mit einem quietschenden Dröhnen, das man nicht länger als eine Minute aushält. Ich überlege kurz ob ich Kathi und Johann über die Unzulänglichkeiten des Autos aufklären soll, schau mir die beiden kurz an während ich meine Sitzposition verfeinere und entschließe mich still zu sein.
“Wo fahren wir eigentlich hin?” fragt Johann und aus mir schießt “Eis essen” nur so heraus, weil Eis essen meine Lieblingsübergangshandlung in Gesellschaft ist. Ein gut zelebriertes Eisessen schickt alle Beteiligten fast automatisch in den Urlaubsmodus. Kaum jemand hat was gegen Eis und man kann im Kopf Spekulationen anstellen, ob die Auswahl der Eissorten auf den Charakter rückschließen lässt - Stracciatella-Nuss nehmen die Spießigen und Erdbeer-Melone die verträumten Abenteurer. Ich entscheide mich jetzt schon für Stracciatella-Nuss und freu mich, dass ich mit der Aussicht auf Eis meine Mitfahrer darüber hinweg trösten kann, dass die Klimaanlage nicht funktioniert. Für alles einen Plan. Heute ist ein besonders schwüler Abend, man spürt die Kraft der Sonne noch stark, obwohl sie schon tief steht, denke ich und beginne mich wohl zu fühlen. Kathi und Johann sind mir ans Herz gewachsen seit ich sie kenne und sie hier im Auto versammelt zu haben löst in mir ein jugendliches Gefühl aus, dass ich inmitten des Arbeitsalltags schon seit Jahren nicht mehr gespürt habe. Das die Handbremse klemmt überspiele ich geschickt und rolle los. Kathi schließt ihre Türe erst als wir schon 15 Meter bergab gerollt sind. Ich freu mich über die Dynamik und wundere mich darüber, dass ich mich über so etwas freuen kann, verliere den Gedanken aber sofort wieder wegen dieser schwer einsehbaren Kreuzung, an der ich mir früher, als ich noch hier wohnte, immer dachte dass ich hier einmal sterben würde. Das war nie mit Angst verbunden, sondern ein nüchterner Gedanke einer Möglichkeit und heute ist mir sowieso nichts ferner als der Tod. Johann beugt sich bei der Kreuzung leicht nach vorne um was zu sehen und sagt “Geht.” Ich vertraue ihm und fahre ohne zu kontrollieren los.

Je mehr alles um einen herum zerbröselt, desto mehr werden andere Dinge für einen zum Anker.

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